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Übersicht

Atmosphärisches Wochenbuch

Atmosphären und Marmeladengläser

Matthias Ohler am 26.12.2009

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Atmosphäre ist ein Wort wie Brombeermarmelade, Formel-1-Bolide, Weihnachtszeit und Rechtsanwalt. Alle sind sie Substantive. Und trotz der diffizilen Untersuchungen eines Philosophen wie Ludwig Wittgenstein zu den feinen Unterschieden unserer Wortgebräuche scheinen wir immer noch geneigt, allem, was dazu taugen könnte, als Etikett zu dienen, auch irgendeinen, wenn auch noch so ätherischen, gegenständlichen Sinn zu verleihen. Georg Böhme sprach zeitweilig von Atmosphären als „Halbdingen“. Und auch Peter Sloterdijk, dem so viel Klärendes zu verdanken ist zur Bedeutung menschlicher, von Menschen immer wieder neu geschaffener Sphären und Atmosphären ihres Daseins, reitet mit einer immer neu bestückten Kavallerie von Substantiven durch´s Gehege der menschlichen Verhältnisse. Wie Mustangs wildern die Begriffe aus, und wer immer mag, reitet auf ihnen weiter. Tatsächlich erlaubt ja erst die Metapher des Atmosphärischen, eigene Befindlichkeiten in Verbindung und Beziehung zu setzen mit und zu etwas, das sie berührt, aber nicht sie selbst sind. Macht es aber Sinn, hier von „etwas“ zu reden? Es ist interessant, ausführlich zu betrachten, was mit diesem Wort alles möglich ist – und was nicht; beziehungsweise was sich bei näherem Hinsehen als anders erweist, als wir vielleicht zuerst erwarten. Die Frage danach, wo eine bestimmte Atmosphäre ist, richtet sich auf anderes aus als die, wo Michael gestern Abend sein Auto abgestellt hat oder wo Tante Kätchens Marmeladenglas abgeblieben ist. Wann ist Weihnachtszeit? Nicht immer dann, wenn weihnachtliche Atmosphäre herrscht. Wo finde ich einen guten Rechtsanwalt? Die Antwort könnte lauten: Im Internet. Atmosphäre ist nicht etwas, aber auch nicht nichts. Will man sie greifen, entzieht sie sich. Will man sie festmachen an dem, was sie „ausmacht“, um sie dann kontrollieren zu können, entzieht sie sich wieder. Metaphorische Konzepte wie das des Atmosphärischen (oder auch das der Unternehmenskultur) bechancen uns, einfache entweder-oder-Ideen zu verlassen. Im systemtheoretischen Sprachspiel könnte man sagen: Atmosphären sind Emergenz-Phänomene und insofern mit simplen ontologischen und kausalistischen Begriffswerkzeugen nicht zu verstehen. Darin liegt gerade ihr Potential. Dieses Potential als konzeptionelles, begriffliches zu sehen, und weniger als etwas im Bereich der Phänomene, das es zu finden und dessen es sich zu bemächtigen gilt, dürfte einen großen Mehrwert versprechen, gerade im Bereich professioneller Beratungsleistungen.

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