Atmosphärisches Wochenbuch
Fremdheit in der Organisationsberatung
-> Hier können Sie Kommentare lesen oder schreiben
Zufällig las ich kürzlich in dem inzwischen als Klassiker geltendem Aufsatz von Alfred Schütz „Der Fremde“ (vgl A. Schütz, Werkausgabe, 2011). Schütz (1899-1959) entwirft dort ein interessantes Bild des „Fremdseins“ bzw. des „Fremden“. Der Fremde nimmt sich in der Fremde in seiner Alltagsorientierung, seiner Individualität und seines fortwährenden „Fremdseins“ kontinuierlich als Fremder wahr, weil er sich von seinen Alltagsoutinen verabschiedet hat bzw. verabschieden musste, wie umgekehrt er deswegen auch von anderen als Fremder erkannt wird.
Schütz bezieht sein Theorem vornehmlich auf Migranten. In seinen Ausführungen betont Schütz u.a.
- das Fehlen traditioneller Eingebundenheit des Fremden.
- die Erkenntnis, dass das Alltagswissen immer erst konstruiert werden muss
- die aus der fehlenden Routine erforderliche Notwendigkeit für den Fremden, Situationen zunächst individuell zu definieren und einzuordnen
- die Objektivität des fremden Akteurs und schließlich dessen „ zweifelhafte Loyalität“ (vgl. auch: http://de.wikibooks.org/wiki/Soziologische_Klassiker/_Migrationssoziologie/_Schütz)
Mir kam beim Lesen der Gedanke, dass der Schütz’sche Ansatz gut auch im Zusammenhang von Organisationsberatung gelesen werden kann, respektive Fremdheit ja in der Organisationsberatung einen anerkannten Stellenwert hat. Organisationsberater sind - zumindest dem Verständnis des prozessorientierten Vorgehens nach – „Fremde“, und zwar in der Art, dass sie primär ihr kulturelles Nicht-Wissen der Organisation bzw. den Klienten zur Verfügung stellen. Der Berater ist ein neugieriger Neuling, der allerdings - im Gegensatz zu Schütz’ Fremden – weniger wegen seiner Fremdheit in eine Krise gerät, als vielmehr sein Befremden – Beratersprech - wohl dosiert zum Ausdruck bringt, um das Klientensystem dabei zu unterstützen, eigene kulturelle Muster zu erkennen und gegebenenfalls zu verändern.
Meine Erfahrung ist: Klienten erleben Berater besonders dann als hilfreich, wenn sie Klienten tatsächlich als „Fremde“ und nicht als allzu „Bekannte“ zur Verfügung stehen. Fremdheit wäre in diesem Sinne eine brauchbare Ressource, um ein Höchstmaß an „Objektivität“ bzw. eine Beobachtungsperspektive 2. Ordnung zu ermöglichen. Umgekehrt: Wer als Organisationsberater, Coach oder Therapeut allzu schnell vorgibt, sich in der Landschaft der Klienten auszukennen, sprich im Habitus des „Bescheidwissers“ daher kommt, verliert nicht selten schnell an Anschlussfähigkeit und letztlich auch an beraterischer Qualität, zumindest auf der Meta-Ebene.
So wie Alfred Schütz meinte, dass Assimilation nur möglich sei zum Preis des ehrlichen Bemühens, die relevanten Muster des fremden Bezugsystems zu verstehen, gilt für gute Beratung das Fremdsein als relatives Fremdbleiben gegenüber den Klienten möglichst lange aufrecht zu erhalten.
Oder um es sinngemäß mit Karl Valtentin zu sprechen: „Fremd ist und bleibt der Fremde nur in der Fremde.“
Kommentare
10.03.2012
Matthias Ohler
Solange man sich nicht verführen lässt zu meinen, man könne sich darüber, wie fremd man sei, und wie man diesbezüglich wahrgenommen wird - und sei es gar von sich selber - immer so sicher sein. Kurz gesagt im Slogan für OB: Never walk alone ...
Hier können Sie Kommentare schreiben