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Atmosphärisches Wochenbuch

Haare

Raimund Schöll am 04.03.2012

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Ein Riesengewirre - links rechts, von überall her strömen sie ein und nach überall aus. Mädchen, die sich am Kiosk ihre Süßigkeiten kaufen, eine alte Frau, die mit dem Rollator über den Boden schiebt und gedresste Geschäftsleute, mit Aktentasche und Rollkoffer - vor sich hin hetzend. Die Zuguhren zeigen auf die Zeit; unerbärmlich marschiert sie voran, es riecht nach Eisen und Staub, nach Kaffee und Croissants, nach Wurstsemmel und Druckerschwärze.

Achtung Achtung, Reisende nach ....werden gebeten auf Gleis 12....die Zugabfahrt beginnt in wenigen Minuten.

Die Kollegin meinte, sie hätte eine Stunde Zeit, wäre doch nett sich zu treffen, sei doch schon so lange her gewesen, das letzte Mal. Also haben wir uns verabredet, haben uns hier am Bahnhof getroffen und sind ins nächstbeste Café gegangen und haben uns auf zwei Blechstühlen mit Blechtisch nieder gelassen. Wir unterhalten uns bei Cappuccino und Wasser, werfen uns angeregt Sätze zu. Hinten sehe ich zwei Tauben fliegen, über eines Mannes kahlen Schädel, wünsche mir insgeheim, dass wenigstens eine das macht, was sich anbietet. Es passiert aber nicht, die Taube hat ihr Geschäft schon erledigt. Meine Kollegin erzählt, ich erzähle der Kollegin, wir verstehen uns gut - wie immer, nach wie vor.

Dann irgendwann gleitet mein Blick an meiner Kollegin vorbei. Unweit von uns ist jemand. Die Person wirft ihr polanges Haar von der einen Seite auf die andere Seite. Sie steht vor einer Art Schaufenster mit integriertem Spiegel. Langes dunkelbraunes Haar wippt von links nach rechts und von rechts nach links. Immer wieder. Dann noch wird ein Kamm gezückt. Der fährt elegant und rhythmisch durch die Haare. Die Person hat einen beigen Parka an, hellblaue Jeans und robuste Halbschuhe. Sie dreht sich hin und dreht sich her wie eine Diva, immer den Spiegel und das Haar fest im Blick. Das Haar fesselt, die ganze Aufmerksamkeit gilt nur ihm. Aber keiner außer mir scheint Notiz davon zu nehmen. 

Es sei Zeit zu gehen, sagt die Kollegin schließlich. Wir stehen auf, sind kurz davor, uns voneinander zu verabschieden. Sei doch nett gewesen. Ja, sage ich, sei es gewesen. Würde mich auch freuen, wenn wir uns wieder öfter sehen könnten zum Gedankenaustausch. Ja, sagt sie, meine ich auch. Indes dreht sich die Person weiter hin und her vor dem Schaufenster, mit immer auch wieder dem Kamm im Einsatz. Mich interessiert nun nur noch das Gesicht. Welches Gesicht verbirgt sich hinter dem Haar mit dem Parka? Was ist das für eine Figur? Meine Kollegin ist schon weg in Richtung Bahngleise geeilt. Ich bleibe kurz stehen. Achtung, Achtung, eine Durchsage, dröhnt es zum x-ten Mal durch die Halle. Das Haar dreht sich plötzlich, kommt auf mich zu und schweift an mir vorbei.

Der Mann hat eine unmoderne Hornbrille auf. Der Mann muss um die 50 sein. Der Mann hat ein völlig biederes blasses Gesicht. Das Haar ist keine Perücke, erkenne ich - aber der ganze Stolz.

(O.G.)

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