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Atmosphärisches Wochenbuch

Ich Wähler ich

Raimund Schöll am 22.09.2013

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Heute ist Sonntag, der 22. September. Eine andere Stimmung als sonst liegt in der Luft. Es wird gewählt. Endlich darf ich, der Wähler, für mich selbst für zwei Minuten still Andacht halten und aktiv bei der Demokratie mitmachen. In der Wahlkabine werde ich stehen, den dicken Stift in meiner Rechten, werde ich kreisen, ihn über große kleine Wahlzettel fliegen lassen, mir die Landschaft der Möglichkeiten vor Augen halten, und vielleicht auch dran denken, wie es früher mal war, als meine Großeltern noch jung waren, mir die Szenarien vorstellen, was passiert, wenn diese oder jene dran kommen, mir vorstellen, wie dann am Abend darüber geredet werden wird, man sich fragen wird, warum ich jetzt da mein Kreuz hin gemacht habe und nicht dort, wenn ausgewertet und analysiert wird, gerechtfertigt, gelacht, geweint werden wird, oder man entsetzt oder ratlos ist, weil es nicht gereicht hat, und am Tag danach in den Zeitungen von Erdrutschen, Eruptionen, Verabschiedungen, Abstrafungen, Achtungserfolgen zu lesen sein wird, der Wählerwille dann als volonté generale gepriesen und man dann erhaben sagen wird, dass es der Wähler halt so und halt nicht anders wollte, und ich meinen Stift dann wie einen Adler im Sturzflug nach unten fallen lasse, ich ihn einmal von rechts oben nach links unten und dann von rechts unten nach links oben führe, und das Ganze dann gleich noch mal, und ich dann am nächsten Tag meinem Leben weiter nach gehen werde, aber keinesfalls so als sei nichts passiert. Das war noch nie so bei mir.

(O.G., Tagebucheintrag)

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