Atmosphärisches Wochenbuch
Ruhe bitte!
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Der Leitartikel heute in ZEIT-online ("Es brennt", zu den Protesten und Straßenkämpfen in Great Britain) steht - einmal mehr - für viele, die derzeit die deutsche Presse leiten: Es werden zwar "dichte Beschreibungen" gemacht, die aber ihre eigenen, nicht weiter reflektierten Selbstverständlichkeiten servieren, natürlich in dem gewohnten Smoking der Ausgewogenheit. Schauen wir rein:
"(...) Man will diese Leute am liebsten packen, ihnen die Kapuzen herunterziehen und rufen: Was fällt euch ein?! Wieso seid ihr so wütend? Wieso seid ihr so hoffnungslos? Man müsste dabei die eigene Wut gegen sie unterdrücken: Jugend ist auch ein Versprechen, aber dieses Versprechen haben die Plünderer von London weggeworfen. (...)"
"(...) Wer will, dass es nicht so endet wie in London, der muss mit den Jungen sprechen und ihnen zuhören. Er muss ihnen helfen, ihr Versprechen umzusetzen. Der Unterschied zwischen den Jugendprotesten und den Jugendkrawallen ist eben: Die einen wollen Freiheit und Gerechtigkeit, die anderen Krieg und Flachbildschirme. (...)"
Das Video, das dem Arttikel beigestellt ist und zeigt, wie ein verletzter Junge, dem zuerst aufgeholfen wird, der Rucksack geöffnet und etwas herausgestohlen wird, ist so untertitelt: "Ein Video zeigt Jugendliche, die einen bereits verletzten Jungen auf der Straße ausrauben."
Auf dem Video ist niemand vermummt. Alle Gesichter sind, trotz Kapuzen, zu sehen. Es schaut EINER in den Rucksack des Jugendlichen und stiehlt etwas heraus (der Plural ist hinein-beschrieben). Offensichtlich wird er von anderen dafür, sagen wir: befragt, und weist deren Kommentare ab. Weiter anlegen wollen sie sich mit ihm nicht - kann man vielleicht verstehen.
Man könnte sich fusselig kommentieren über die Kommentare der Presse. Aber man muss vorsichtig sein, wenn man die angebotenen Unterscheidungen, etwa zwischen "Protesten" in Ägypten und "Krawallen" in London, nicht mitmachen will und sich so vielleicht dem Verdacht aussetzt, Verständnis oder sogar Unterstützung für die falschen Jungen auf der falschen Straße zu pflegen.
Fritz B. Simon schlägt vor, Hungeraufstände als Muster zu nehmen, um zu beschreiben, was in GB geschieht. ( http://www.carl-auer.de/blog/ ) Das ist viel schlauer und einsichtsfördernder. Und der Unterschied zwischen Flachbildschirm und Freiheit wird dadurch wesentlich kleiner. Wenn Freiheit auch darin besteht, über den Besitz von Flachbildschirmen an dem tielzunehmen, was die Gesellschaft üder diese Bildschirme als Freiheit verkaufen will, man sich die aber nie wird leisten können ... Ich erinnere mich an ein Interview mit einer Frau, die die frisch geöffnete deutsch-deutsche Grenze passierte und einem Reporter in den Weg lief, der sie antworten machen wollte, was ihr diese Freiheit nun bedeute und wert sei. Ihre unbeirrte Antwort, trotz mehrfachen Versuchs des Reporters, anderes herauszupressen: Einen Golf. Gut, Flachbildschirme gab´s damals noch nicht.
An 500 Orten der DDR kam es im Juni 1953 zu Bewegung auf der Straße und auch zu Gewalt gegen öffentliche Einrichtungen und Personen. Krawalle? Gleichwie: Beschrieben wurde - und wird - , was geschah, aus unterschiedlichen Perspektiven und Interessen sehr unterschiedlich.
Die Kommentare der Presse sind eine atmosphärische (ziemlich geladene) Reaktion auf eine atmosphärische Intervention oder Verstörung (auch ziemlich geladen). Ruhe, bitte! Wenn man daraufhin mit den Jugendlichen sprechen will, muss man gegebenenfalls auch seine eigenen dichten Beschreibungen ein bißchen lösen. Man darf fragen, wieviele Flugtickets nach London schon in den Chefredaktionen geordert wurden. Wahrscheinlich herrscht dort aber eher Ruhe.
Kommentare
11.08.2011
Raimund Schöll
"Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen!" (Bourdieu,1993)
11.08.2011
Raimund Schöll
Wenn es denn investigativen Ruhe-Bitte-Apologeten gelänge, die Krawalle in ruhige Interviewsituationen zu verwandeln, wärs doch ein großer Schritt. Im Buch "LA MISERE DU MONDE" von Pierre Bourdieu gäb´s sogar eine Vorlage zur Methode dafür. Allerdings müßte man da auf sensation seeking und bildungsbürgerliche Empörungsrhetorik verzichten. Denn soziologische Interviewsituationen sind höchstens Holzklasse und feine Unterschiede bildend, mehr nicht.
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