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Atmosphärisches Wochenbuch

Tunnel

Matthias Ohler am 20.09.2011

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Ein Kollege hatte unlängst einen Auftrag in der Schweiz mit allen Zollformalitäten zu erledigen. Seine Erfahrungen durften so weit führen, daß er gar den Tunnel unter der Autobahn zwischen den beiden Zolltürmen zweimal (Gottseidank!) durchwandern musste. Das war mir in den fünfzehn Jahren, die ich nun schon regelmäßig Kongresse in der Schweiz betreue, noch nicht vergönnt. Und es erinnerte mich an einen Beitrag vor einiger Zeit, den ich passenderweise hier einstelle, weil er, wie ich finde, Hintergründe mancher Kommunikationstheorien zu erhellen vermag:

 

DIE ZEIT vom 30. März 2006 berichtet (unter „Zeitläufte“ auf Seite 106, Autor Thomas Ramge) über die „Enttarnung“ der „Operation Gold“ (amerikanischer Deckname) bzw. „Stopwatch“ (britischer Deckname) im April 1956. Es handelte sich um einen knapp 450 Meter langen Tunnel, der im Auftrag westlicher Geheimdienste in Berlin vom amerikanischen Sektor aus in den sowjetischen hinein gegraben wurde, um wichtige Telefonleitungen des KGB anzuzapfen.

Man lernt bei der Lektüre nicht nur einiges über die technischen Anforderungen eines solchen Projekts, mit dem man andere tunneln will. Zitat: „Wegen eines überraschend hohen Grundwasserspiegels konnten die Pioniere die Röhre nur 2,7 Meter unter der Erdoberfläche graben. (…) Beim ersten Schneefall schmolz die Schneedecke über dem beheizten Tunnel, sodass sich der Verlauf quer über die Sektorengrenze deutlich abzuzeichnen begann. (Man) ließ umgehend Kühlgeräte in den Tunnel schaffen. Zum Glück schneite es wieder, und der grüne Pfad von West nach Ost verschwand wieder von der Erdoberfläche (…).“ Amerikanische Pioniere hatten Übungen in New Mexico gemacht, geräuscharm zu graben, und und und. (Schon diese ganzen Details über die Mühen machen den Beitrag sehr lesenswert)

Das eigentlich Überraschende aber ist, dass die Entdeckung des Tunnels durch die sowjetische Seite im April 1956 schon gar keine mehr war. Überrascht waren nur die West-Geheimdienste. (Wirklich?) Durch einen Doppelagenten war der KGB längst über das Projekt informiert und hatte es nach Fertigstellung trotzdem einige Monate laufen lassen. Der KGB hatte sein Wissen auch nicht genutzt, um über die angezapften Leitungen gezielt Desinformationen zu streuen – man wollte die anderen nicht wissen lassen, daß man weiß, um so seinen Top-Agenten zu schützen (der dann einige Jahre später durch eine Art weiteren Doppler-Test doch aufflog). Ist Kommunikation nicht wunderbar? Einer der Kronzeugen Thomas Ramges ist übrigens Markus Wolf. Was man dem Mann jetzt alles plötzlich glaubt!

Ich erlebe, wie ich beim Lesen solcher Berichte wie tief hineingezogen werde in eine Kommunikationsstruktur, wo nichts wirklich sicher ist, außer der Tatsache, dass nichts wirklich sicher ist. Und das ist wahrlich eine Tat-Sache, weil sie Ergebnis des Handelns aller Beteiligten ist.

Jetzt lässt mich aber dieses Sprachspiel „Kommunikation von Geheimdiensten und Agenten“ an viele Theorien zur Kommunikation allgemein denken. Wie selbstverständlich wird dort häufig davon ausgegangen, dass man irgendwie von Nicht-Verständnis zu Verständnis gelangen müsse. Das Verständnis ist eigentlich eher der – allerdings auch immer vorläufige – Glücksfall, Nicht-Verständnis der – auch vorläufige – Normalfall, der dem Glücksfall ständig auf den Füßen rumsteht. Und es scheint dem Verständnis, glaubt man diesen theoretischen Ansätzen, deutlich schwerer zu fallen, aus seiner Glücksnische herauszukommen.

Warum verbringen so viele Geheimdienste so viel Zeit damit, Nachrichten zu verschlüsseln und Verständnis – der falschen Seite – zu verhindern, wenn sie doch eh davon ausgehen könnten, dass Verständnis unwahrscheinlich ist? Sie gehen eben davon nicht aus. Und leben offenbar schwerer damit, dass es schwer ist, NICHT verstanden zu werden.

Um nicht missverstanden zu werden: Es ist klar, dass Missverständnisse und ihre Verwandten uns motivieren, über Verständnis nachzudenken. Deshalb denke ich aber nicht, daß gelingender Kommunikaiton eigentlich nicht-gelingende zugrundeliegt. Eher umgekehrt. Würde vielleicht einen guten Agenten abgeben.

Zum Abschluß noch ein Witz, passend zur Geschichte von 1956:

Eine Lehrerin einer DDR-Schule will die Kinder nach den Ferien mit einer einfachen Frage wieder in den Unterricht einladen: „Na, wer weiß denn, wer DAS KAPITAL geschrieben hat?“ Nach einigen Minuten gespannter Stille traut sich ein Schüler eine Antwort zu: „Karl May!“ Die Lehrerin ist verdattert. „Na, das war doch nicht der Karl May, überleg noch mal.“ Der Schüler: „Hab mich schon gewundert, dass so wenige Indianer drin vorkommen.“ – Keine Schülerin, kein Schüler kann die Frage der Lehrerin beantworten. – Als sie nach Hause kommt, erzählt sie ihrem Mann davon. Der: „Ach, war das gar nicht der Karl May?“ – Die Lehrerin geht frustriert in ein Lokal. Nach einer Weile setzt sich ein netter Herr zu ihr und fragt, warum sie denn so niedergeschlagen sei. Sie erzählt ihre Erlebnisse und schließt: „Niemand hier scheint zu wissen, wer DAS KAPITAL geschrieben hat.“ – Der nette Herr legt beruhigend die Hand auf ihre Schulter: „Keine Sorge, Genossin, ich bin von der Stasi, wir kriegen auch das raus!“

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